Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt

 

In diesem Aufsatz geht es mir darum, das Wesentliche von Kunsttherapie herauszuarbeiten. Im Marketing spricht man von Unique Selling Proposition, was auf deutsch soviel bedeutet wie "Alleinstellungsmerkmal".

  

Jede Kunsttherapeutin, jeder Kunsttherapeut, der eine eigene Praxis führt oder sich in einer Klinik zu positionieren hat, muss beschreiben können, was das Besondere der Kunsttherapie ist. Er muss seine Alleinstellungsmerkmale kommunizieren und seine Dienstleistung verkaufen.

Ich selber komme von der intermedialen Kunsttherapie und könnte jetzt die Alleinstellungsmerkmale dieser Richtung beschreiben. Stattdessen richte ich hier den Blick auf ein Merkmal, das ALLE kunsttherapeutischen Richtungen betrifft und den gemeinsamen Boden ausmacht, auf dem die Vielfalt verschiedenster kunsttherapeutischer Methoden wachsen. Ich nenne es

 

 

“Das Poetische“

 

Was die Kunsttherapie wesentlich von anderen therapeutischen Verfahren unterscheidet, ist poetisches Handeln und Erkennen.

 

Poesie verstehe ich hier in einem umfassenden Sinn und möchte sie nicht auf die Dichtkunst beschränken. „Das Poetische“ entspringt einer schöpferischen Grundhaltung, fliesst in alle Künste hinein und kommt auch in alltäglichen Handlungen zum Ausdruck. Poesie bedeutet so viel wie die Beteuerung, man könne das, was einen besonders berührt, schwerlich in Worte fassen.

 

Poetisch sind alle Verfahren, welche die Welt und das Leben darstellen, ohne Umweg über das Gezänk der Widersprüche, welches man Reflexion nennt.

 

„Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt.“ (Novalis)

 

„Das Poetische“ ist Schnittstelle von Gegensätzen und wird zur Brücke über die Schlucht moderner Zerrissenheit. Sie verbindet Gefühl und Verstand, Körper und Seele, Bewusstes und Unbewusstes, Objekt und Subjekt, Traum und Realität, Transzendenz und Immanenz.... Poesie behält das Ganze im Blick. Auch Geheimnisvolles und Unerklärbares erhalten Bedeutung.

 

Während andere Psychotherapierichtungen „das Poetische“, häufig aus einer gewissen Distanz heraus betrachten und als Symbolik rationalisieren, ist es der Kunsttherapie gelungen, „das Poetische“ wirklich in das therapeutische Vorgehen zu integrieren. Es wird nicht nur darüber gesprochen - es wird zur Handlung - zur heilsamen Handlung.

 

Deutlich wird dies beim bewussten therapeutischen Einsatz künstlerischer Ausdrucksformen, wie z.B. Malen, Musizieren, Tanzen, Dichten oder Gestalten. Aber auch die Art und Weise, wie ein Kunsttherapeut, der in einer poetischen Grundhaltung steht, ein Gespräch führt, unterscheidet sich von einer rein psychologischen Kommunikationstechnik. Nonverbale Kommunikationsformen erhalten den gleichen Stellenwert wie die gesprochene und geschriebene Sprache.

 

Auch im Forschen und Erkennen orientiert sich der Kunsttherapeut nicht nur verstandesmässig, sondern bezieht „das Poetische“ mit ein. Mit einer kunstanalogen Haltung wird der künstlerisch, poetische Prozess selber zum Werkzeug der Erkenntnis. „Je mehr das Künstlerische der Forschung zugrunde liegt, den Grund bildet, um so mehr eröffnet sich der Zugang zu dem, das uns ‚übersteigt’, das wir nicht mit dem linearen Denken erfassen können.“ Rein verstandesmässiges Forschen führt zu Wissen, poetisches Forschen jedoch zu Weisheit. Es braucht beides.

 

Mit diesem Alleinstellungsmerkmal „Poetisches Handeln und Erkennen“ trägt die Kunsttherapie Wesentliches zur Überwindung der Krise im Gesundheitswesen bei, das an einer einseitigen, mechanistisch-deterministischen Grundhaltung leidet. In der modernen Medizin nimmt das rational, kausale Denken und Handeln noch immer eine zentrale Stellung ein und leistet Hervorragendes, wie beispielsweise in der Herzchirurgie. Und doch macht sich in der Bevölkerung und auch beim Gesundheitspersonal Unbehagen breit. Erstens steigern sich die Kosten ins Unermessliche. Zweitens empfinden sich Patienten und Personal im Räderwerk modernster Medizin als Menschen nicht mehr ernst genommen. Und drittens werden wir durch die medizinische Machbarkeit vor kaum lösbare ethische Fragen gestellt.

 

Die Ursache, warum unser Gesundheitswesen dermassen verstandes- und technikorientiert ist, hat grössere Zusammenhänge. Eigentlich begann es in der Aufklärungszeit, als sich Wissenschaft und Religion trennten und sich die Naturwissenschaften bildeten mit ihrem Anspruch auf Objektivität. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war, vereinfacht gesagt, die Entdeckung, dass die Erde rund ist. Die sich immer mehr spezialisierenden Wissenschaften bemühten sich in den letzten dreihundert Jahren, das Subjekt vom Objekt zu trennen, das Objekt vollkommen rein zu beschreiben, sich selber als Mensch draussen zu lassen. Diese objektivistische Grundhaltung wurde jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts radikal in Frage gestellt. Und zwar wiederum mit bahnbrechenden Entdeckungen, paradoxerweise durch eine naturwissenschaftliche Disziplin, nämlich die Physik, welche aufgrund der Erforschung des Inneren der Atome die Vorstellung von der Starrheit der Kausalität aufgegeben hat und die ursprünglichen Ideen von Raum und Zeit umwarf. Auch in anderen Wissenschaftszweigen vollzog sich im letzten Jahrhundert ein radikaler Bewusstseinswandel, der hier jetzt nicht ausführlich beschrieben werden kann. Hinzuweisen ist jedoch auf die Erforschung des Unterbewusstseins durch die Psychologie und die damit verbundenen Konsequenzen für die medizinisch-psychiatrische Praxis.

 

Dieser Paradigmenwechsel brachte neue Modelle und Theorien hervor, wie beispielsweise den radikalen Konstruktivismus, die Systemtheorie aber auch die philosophische Phänomenologie. Bei diesen Theorien geht es, vereinfacht gesagt, um die Einsicht, dass der Mensch sich selber mit all seinem Fühlen, Empfinden, Träumen und Denken nicht ausklammern kann, weder als Forscher, Arzt, Therapeut, Lehrer oder Politiker. Die Idee, die Welt liesse sich am besten verstehen, wenn man sich von ihr distanziert und sie quasi von Aussen objektiv betrachtet, ist „wissenschaftlich“ als Illusion entlarvt worden. Es gibt keine „objektive“ Realität. Wir sehen immer uns selber in der Welt und beeinflussen sie durch unsere Art der Wahrnehmung. Der Quantenphysiker Werner Heisenberg, hat dies bereits 1955 so ausgedrückt: „Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaften in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich eigentlich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern um ein Bild unserer Beziehung zur Natur.“ Jürgen Kriz fügt an: „Dies Zitat macht deutlich, dass die Physik (…) längst die Idee aufgegeben hat, sie könne zu einer objektiven, vom Menschen unabhängigen Ordnung dieser Welt vordringen. Vielmehr geht es darum, eine Fehlentwicklung abendländischer Wissenschaft nun endlich wieder zu korrigieren: nämlich den misslungenen Versuch, den Erkennenden aus der Beschreibung des Erkannten auszublenden. (…) Eine naturgerechte Wissenschaft, die den Menschen als Teil der Natur versteht, und die damit dann wie selbstverständlich auch menschengerechter wäre, erfordert somit als wichtige Grundqualität ein ganzheitliches In-Beziehung-Treten-Können.“

 

Erkenntnistheoretisch ist dieser Bewusstseinswandel also längst vollzogen. Im Alltag sieht es jedoch anders aus. Der Glaube an Objektivität, der sich in einseitiger Rationalität ausdrückt, beherrscht noch immer das Gesundheitswesen, sowie auch Bildungseinrichtungen, Politik und Wirtschaft.

 

Die Integration „des Poetischen“ vermag diese Einseitigkeit auszugleichen. Dies ist die Stärke unseres Berufszweiges. Dies ist auch der gemeinsame Boden aller Kunsttherapieformen auf dem sich verschiedene kunsttherapeutische Methoden entwickelten, welche zu einem wichtigen Bestandteil seriöser psychotherapeutischer Interventionen wurden. Kunsttherapie ist die Disziplin, welche die neuen Anschauungen der Systemtheorie, Wissenschaftstheorie oder Phänomenologie im Alltag von Spitälern und Praxen umzusetzen vermag.

 

Eine Hauptschwierigkeit besteht jedoch darin, dass von Kunsttherapeuten verlangt wird, in der „alten“, linear, verstandesorientierten Sprache zu erklären, was sie tun und erkennen. Kunsttherapeuten verwenden eine künstlerisch, poetische Sprache mit ihrer eigenen Grammatik. Wer die Sprache verstehen will, muss sie sprechen lernen. Sie kann nicht einfach in die „Rationalistensprache“ übersetzt werden. Oder wie es Hilarion Petzold sagt: „Man wird der Kunst, künstlerischem Tun, aber auch den Gestaltungsprozessen von Patienten in kunsttherapeutischer Arbeit sicher nicht gerecht, wenn man sie allein mit dem Verstehensraster und dem begrifflichen Instrumentarium psychologischer Theorien (…) angeht.“

 

Poetisches Handeln und Erkennen – eine unique selling proposition der Kunsttherapie? Ist der Begriff Alleinstehungsmerkmal nach diesen Überlegungen überhaupt noch sinnvoll? Niemand steht alleine. Wir können uns nicht künstlich von der Natur trennen. Alles hängt mit allem zusammen. Müsste es nicht eher „ergänzendes Gemeinschaftsmerkmal“ heissen? Es wird noch einige Zeit dauern, bis die Kunsttherapie wirklich voll in die wissenschaftliche Gemeinschaft integriert ist. Erkennbar wird das sein, wenn bei klinischen Austrittsberichten Bilder, Gedichte und vielleicht sogar Musik den gleichen Stellenwert bekommen, wie verstandesorientierte Beschreibungen und Diagnosen. Kunsttherapie ist dann integriert, wenn in Ärzterapporten gemalte Bilder neben den Röntgenbildern betrachtet werden, um zu verstehen, was seelisch sichtbar wird. Kunsttherapie wird dann ernst genommen, wenn das Gesundheitspersonal von den eigenen Empfindungen zu sprechen beginnt und diese in „poetischer“ Form in Pflegedokumentationen hineinschreibt oder zeichnet. Kunsttherapie ist dann etabliert, wenn Versicherer und Politiker erkennen, dass der Mensch und die Poesie des Alltags nicht in anrechenbare Fünfminuten-Zeiteinheiten gepresst werden kann, dass nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Zeit eine Rolle spielt.

 

Kunsttherapie erfüllt dann seine Aufgabe, wenn die Künste in den Alltag des Menschen getragen werden - in Familie, Schulen, Firmen und Politik. Oder besser gesagt: „Es geht nicht darum, die Kunst in die Politik hineinzutragen, es geht darum die Politik zur Kunst zu machen.“ Josef Beuys

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