Improvisation als Lebensform

"Improvisation ist weniger eine Musizierform als eine Lebensform. Sie bringt den Musiker an die Quelle der Musik zurück, eine Quelle in seinem Innersten. Improvisation ist ein Empfinden und Denken in Tönen. Alles ist offen, jeder Regung, jedem Wunsch kann entsprochen, jedem Zweifel nachgegeben werden, das Unterste darf zuoberst kommen. Man lernt, mit seinen Fehlern umzugehen, sie zu leben; man verarbeitet sie, lässt sie zu und geht auf sie ein wie auf all das andere, das sich ins Bewusstsein drängt. Ständig wird Unerwartetes nach oben getragen von den Wirbeln im Innern. Oder man bricht ab, schliesst; was auch eine Art der Fortsetzung, eine andere Antwort ist. Wachheit und höchste Aufmerksamkeit sind oberstes Gebot, damit die Möglichkeiten, die sich auftun, bis an die Grenzen erkannt und genutzt werden, damit ja nichts entgehe von dem, was zwischen den Tönen sich ereignet, den Klängen, die stets ein Klang der Seele sind, auch wenn man dies nicht wollte, ein Spiegel, der immer rein abbildet, wo man steht, wie man sich fühlt. Es geht nicht um die Erfüllung einer Form, nicht die Ausarbeitung eines Plans, auch wenn viele Töne sich bereitlegen lassen. Aber ihre genaue Stellung zueinander und damit ihre eigentliche Wirkung entscheidet sich aus dem Augenblick heraus, und eine Pflicht, sie überhaupt zu verwenden, gibt es ohnedies nicht. Jeder Versuch, sich in Vorbestimmtes zu fügen, zu flüchten, mündet in eine gewisse Unwahrhaftigkeit, die dem Anspruch der improvisatorischen Situation nicht mehr gerecht wird, denn sie verliert etwas von ihrem Sinn als Mittel der Erforschung. Anders als die Musik, die sich über die Notenschrift mitteilt, die somit bereits gebrochen weitergegeben wird und deren Wesen ganz das einer Ergänzungsbedürftigkeit ist, ist die Improvisation unmittelbar Wahrheit. Sie entzieht sich dem weiteren Zugriff dessen, der sie hervorbringt, wie ein einmal gesprochenes Wort nicht mehr zurückzurufen ist. Improvisation ist ein Nachdenken und Nachfühlen, gleichermassen ein Vorausdenken und Vorausfühlen. Sie zeigt das Selbstbewusstsein eines Menschen so deutlich wie seine Sensibilität oder Grobheit, seine Eitelkeit, Intelligenz und Sinnlichkeit. All solches lässt sie laut werden. Wer gute Ohren hat, wird dieselben Merkmale in Interpretationen hören, doch bedarf es geweckter Sinne, die Unterscheidungen zu treffen. Der Mensch, der ein Stück spielt, stellt sich nicht weniger authentisch dar und bloss als ein Komponist dessen Schicksal denn auch ganz davon abhängt, inwieweit er dem Spieler, einem Künstler neben sich, zutraut, Raum Freiheit und Verantwortung gleich ihm zu besitzen. Improvisation ist ein Weg, die Seele zu heilen, sie zu versöhnen mit der Welt, die Energien auszugleichen, Geschichte zu sichten, zu ordnen, zu verändern. Voraussetzung ist nur die Zwanglosigkeit allen Geschehens, das Fehlen einer Erwartung und Pflicht, die etwas von der unverzichtbaren Offenheit, in der man sich befindet, nehmen würden. Wer Hörhilfen, Anschaulichkeit und Stützen der Form sucht, wer Kadenzen und Abschnitten nachspürt, Architektur als schützenden Träger einer Substanz erwartet, greift an der Sache vorbei. All das erfüllt ein Improvisator im Vorbeigehen, wenn er gelernt hat, jedem Moment seine eigene Gestalt zu geben, und er einmal entschlossen ist, sich nicht einschüchtern zu lassen, nicht von der Wertung der Vergangenheit, nicht von der Meinung der Gegenwart. Nur für sich selbst ist man im Augenblick der Improvisation verantwortlich, keinem Hörer und keinem Kritiker. Andernfalls nutzt man die Stunde nicht.“

 

zitiert aus dem Buch Experimentelle Pianistik von Herbert Henck

 

 

Bildnachweis: pixabay.com  von mikefoster

 

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